
Nein, man muss es nicht mit dem Philosophen Blaise Pascal halten, der einmal schrieb: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Es ist nämlich durchaus sehr schön, sein Zimmer, seine Wohnung, seine Stadt, sein Land auch mal verlassen zu können. Doch es hilft nichts, sich über stornierte Osterurlaube zu grämen. Glücklich nennen darf sich, wer es statt dessen ruhig in seinem Zimmer aushält und im Kopf auf Reisen geht. Einige Empfehlungen mit Lieblingslektüren aus aller Welt sind hier zusammengestellt – je ferner, desto besser.
Wer noch mehr Ideen sucht, kann sich nicht nur von seiner Buchhändlerin inspirieren lassen, sondern auch von der Internetseite des Münchner Autors Lukas Kubina: Auf lit-cities.com stellt er Romane über Städte aus aller Welt vor. Einen guten Überblick über „Die neue Weltliteratur“ gibt zudem ein unentbehrliches Werk von Sigrid Löffler; in „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren“ wiederum führt die Kennerin Michi Strausfeld in die Literatur Lateinamerikas ein. Natürlich kann man auch mit einem Reiseschriftsteller wie Helge Timmerberg lernen: „Tiger fressen keine Yogis“. Wen die Sehnsucht nach der Ferne nach der Lektüre umso mehr schmerzt, der könnte insbesondere die Buchtipps zu Ecuador oder Brasilien auf dieser Seite lesen und sich klarmachen: Es hat tatsächlich einige Vorteile, zuhause zu bleiben.
1) Kanada – Alice Munro und das Glück
Wenn der lange Atem für Romane fehlt, nicht aber die Sehnsucht nach fremden Welten: In den subtilen Kurzgeschichten der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro lernt man die Gesellschaft Ontarios kennen. Heil allerdings ist diese Welt mitnichten, und leicht haben es auch Munros Charaktere nicht immer. „Zu viel Glück“ heißt einer ihrer Erzählbände, und bereits der Titel lässt ja die Schwere hinter der vermeintlichen Leichtigkeit des Glücks erkennen. Nichts bleibt, wie es ist, vermitteln diese Geschichten, auch nicht die Liebe; alles wandelt sich, unvorhersehbar. Antje Weber
Alice Munro: Zu viel Glück, S. Fischer, TB 9,99 Euro, Audio-CD 7,99 Euro
2) USA – Jonathan Franzen über Familien
Die Lamberts sind schwer auszuhalten. Enid und Albert, ein altes Ehepaar im mittleren Westen, führen einen ehelichen Kleinkrieg. Die erwachsenen Kinder Gary, Denise und Chip arbeiten angestrengt an eigenen Lebensentwürfen. Aber egal, ob biederer Banker, Meisterköchin oder Möchtegern-Drehbuchautor – ihr Leben lässt sich nie so korrigieren, dass es passt. Jonathan Franzen hat mit „Die Korrekturen“ einen gewaltigen Familienroman geschrieben, in dem man mit den Figuren fühlt und gleichzeitig erleichtert ist, nicht mit ihnen unter einem Dach zu leben. Yvonne Poppek
Jonathan Franzen: Die Korrekturen, Rowohlt Verlag, 784 Seiten, TB 14 Euro, E-Book 10,99 Euro
3) Dominikanische Republik – Mario Vargas Llosa in Bestform
Es ist der vielleicht beste Roman des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, so fesselnd wie erhellend. „Das Fest des Ziegenbocks“, erschienen vor zwei Jahrzehnten, taucht ab in die Untiefen der Geschichte der Dominikanischen Republik. Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen: Die Hauptfigur Urania, nach 35 Jahren Abwesenheit wieder nach Santo Domingo gereist, erinnert sich an das Jahr 1961 – und damit an traumatische Ereignisse im Umfeld des Diktators General Trujillo. Eine Geschichte über Macht, Gewalt, Sex – und im Hintergrund wogt die „dunkelblaue Oberfläche des Meeres, aufgeraut durch Schaumflecken“. Antje Weber
Mario Vargas Llosa: Das Fest des Ziegenbocks, Suhrkamp TB 14 Euro, E-Book 13,99 Euro
4) Ecuador – Galápagos als Aussteiger-Traum
Aussteigen und alles hinter sich lassen – wie das im Extremfall in der Realität aussieht, kann man in den Erinnerungen von Margret Wittmer nachlesen. 1932 landete die Kölnerin mit ihrem Mann und dessen Sohn auf der kargen Galápagos-Insel Floreana, hauste mit ihnen zunächst in einer Höhle, gebar dort allein unter Lebensgefahr ihr erstes Kind. Ende gut, fast alles gut: Im bis heute existierenden Hotel Wittmer kocht inzwischen Margrets Enkelin Erika Gulasch. Nicht nur im fragilen Ökosystem von Galápagos gilt dabei immer noch dieser Satz der Großmutter: „Im Paradies ist alles beisammen, das Gute und das Böse, das Schöne und das Schlechte.“ Antje Weber
Margret Wittmer: Postlagernd Floreana, antiquarisch od. Books on demand 16,99, E-Book 9,99 Euro
5) Uruguay – Eine Fährfahrt mit Pedro Mairal
Dies ist ein Roman über eine geliebte Frau, aber auch über eine Stadt: Montevideo. Der argentinische Schriftsteller Pedro Mairal schickt ein Alter Ego namens Lucas mit der Fähre von Buenos Aires in die Hauptstadt Uruguays. Dort will er Geld abheben, weil der Wechselkurs günstiger ist. Außerdem will der Familienvater dort seine Geliebte treffen – die allerdings macht ihrem Kampfnamen Guerra alle Ehre. Die Liebesgeschichte dieser Roadnovel mag man schnell wieder vergessen, die einprägsamen Bilder von Montevideo allerdings nicht. Und nicht das schöne Gefühl, mit einer Fähre auch den Alltag hinter sich zu lassen: „Weggehen“, heißt es da einmal: „Ich verspürte enorme Erleichterung.“ Antje Weber
Pedro Mairal: Auf der anderen Seite des Flusses, Mare Verlag 2020, 173 S., 20 Euro
6) Island – Abgeschieden mit Halldór Laxness
Natürlich hat es seinen Reiz, auf Island das Museum Gljúfrasteinn zu besuchen, den einstigen Wohnsitz des Schriftstellers Halldór Laxness. Geht gerade nicht, aber man kann sich ja lesend auf die Reise machen. Zum Beispiel mit seinem Roman „Das Fischkonzert“ von 1957, das von Island auf der Schwelle zur Moderne um die Jahrhundertwende erzählt; vom Kindheitsparadies eines Jungen, das von vielen Entbehrungen geprägt ist – aber auch von Werten und Würde. Vor allem aber geht es in diesem Entwicklungs- und Künstlerroman darum, wie ein Mensch das ihm gemäße Leben findet: den richtigen Ton. Antje Weber
Halldór Laxness: Das Fischkonzert, Steidl, 20 Euro
7) Brasilien – Bestechend: Carmen Stephan
Brasilien hat es ihr angetan, im mehrfachen Sinne. Immer wieder hat es die in Bayern geborene Autorin Carmen Stephan dort hingezogen; immer wieder schreibt sie darüber: im Geschichtenband „Brasília Stories“, im Roman „It’s all true“, und zuvor im soghaften Debütroman „Mal Aria“ von 2012. Was es bedeutet, von einem Moment auf den anderen todkrank zu sein, hat Stephan selbst in Brasilien nach dem Stich eines mit Malaria infizierten Moskito erlebt. Sie hat daraus einen bestechenden Roman gemacht: Die Mücke selbst ist es, die sich hier als Ich-Erzählerin an ihre Opfer erinnert. Ein Roman, der wirkungsvoll die Reiselust mindert. Antje Weber
Carmen Stephan: Mal Aria, S. Fischer TB 9,99 Euro
8) Ghana – „Afropolitan“ wie Taiye Selasi
Nein, dies ist nicht nur ein Roman über Ghana. „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ führt dort allerdings eine Familie wieder zusammen, deren gut ausgebildete Kinder in London oder New York leben. Taiye Selasi hat den Begriff „Afropolitan“ für eine neue Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln wie sie selbst geprägt. In ihrem Debütroman von 2013 kann man nachlesen, was sie damit meint: Psychologisch klug und literarisch rund erzählt sie von den Problemen einer vordergründig erfolgreichen Familie – und davon, was es bedeutet, sich von den Wurzeln abgeschnitten zu fühlen. Antje Weber
Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so, S. Fischer Verlag, TB 12 Euro, E-Book 9,99 Euro
9) Kongo – Der Witz von Alain Mabanckou
Alain Mabanckou selbst sagt, man solle mit „Die Lichter von Pointe-Noire“ (2013) anfangen, um seinen Kosmos kennenzulernen. Man kann jedoch auch im Roman „Zerbrochenes Glas“ (2005) tiefe Einblicke in die kongolesische Gesellschaft erhalten, oder in „Morgen werde ich zwanzig“ (2010) das Viertel Trois Cents der Hafenstadt Pointe-Noire mit den Augen des zehnjährigen Michel erkunden. Immer findet man die überbordende Fabulierlust des kongolesischen Autors, der heute in Kalifornien lebt, und seinen über alle Widrigkeiten triumphierenden Witz – nicht nur dann, wenn dem Jungen Michel üble Stechmücken in die Ohren und Nasenlöcher kriechen. Antje Weber
Alain Mabanckou: Morgen werde ich zwanzig, Liebeskind Verlag, 22 Euro
10) Südafrika – Nadine Gordimer über Gefühle
Südafrika nach dem Ende der Apartheid: Es ist eine Zeit des Feierns, in der die Gefängnisse geöffnet werden, Aktivisten aus dem Exil wiederkehren. Anhand von zwei Paaren erzählt Nadine Gordimer in „Niemand der mit mir geht“ (1994) von der Gesellschaft und von Gefühlen, Lügen und Verrat. Die politischen Entwicklungen sind mit den persönlichen verknüpft; vor allem der Juristin Vera Stark. „Die Geschicke der Menschen bewegen sich immer in natürlicher Ungewissheit“, analysiert Gordimer, „Leben und Zeitabschnitte enden in Krankheit, Alter – und in Zufällen.“ Antje Weber
Nadine Gordimer: Niemand der mit mir geht, Piper TB 18,99 Euro, Suhrkamp TB 12,50 Euro
11) Türkei – Orhan Pamuk über falsches Leben
Ein junger Mann aus einem anatolischen Dorf verliebt sich in ein Mädchen, schickt ihm Liebesbriefe, entführt es schließlich sogar – erwischt dabei jedoch die Schwester. Die Kernfrage Orhan Pamuks lautet nun: Kann man im falschen Leben glücklich werden? Eine spannende Frage, und so folgt man dem türkischen Nobelpreisträger und seinen Figuren im Roman „Diese Fremdheit in mir“ aus dem Jahr 2014 nicht nur wie so oft nach Istanbul, sondern bleibt bereitwillig dran an dieser vielstimmigen, lebensprallen Geschichte – so schillernd, widersprüchlich und oft traurig wie die Entwicklung der Türkei bis heute. Antje Weber
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir, 587 S., Hanser, gebundenes Buch 26 Euro, Fischer TB 12 Euro
12) Russland – Amüsant: Ljudmila Ulitzkaja
Leichtfüßig, lakonisch und mit viel Ironie erzählt Ljudmila Ulitzkaja in „Die Lügen der Frauen“ aus dem Jahr 2003 sechs Geschichten. Verbunden sind die Episoden durch die Hauptfigur Shenja. Sie trifft auf Frauen, die trotz aller Unterschiede eines gemeinsam haben: Sie lügen sie sich ihr Leben schön. So hat sich Ireen, eine Ferienbekanntschaft, fünf Kinder erfunden, die zehnjährige Nadja einen großen Bruder und die Prostituierten alle denselben romantisierenden Lebenslauf. Vergnüglich zu lesen, wie Shenja mit detektivischem Gespür diese Lebenslügen entlarvt. Sabine Reithmaier
Ljudmila Ulitzkaja: Die Lügen der Frauen, Hanser 16,90 Euro, E-Book 9,99 Euro, dtv-TB 9,90 Euro
13) Indien – Farbenprächtig: Kiran Nagarkar
Der Kronprinz ist eine überraschend moderne Figur, schwächlich, begnadet ironisch, ein Fremdkörper in Kiran Nagarkars Roman „Krishnas Schatten“. Die Handlung ist im frühen 16. Jahrhundert angesiedelt. Es geht im Palastintrige, Kriege, Gemetzel, Liebe und Sex. Und um den in Indien völlig unbeachteten Gatten von Prinzessin Mirabei, einer populären Figur der Volksmythologie, die behauptete, mit Krishna verheiratet zu sein. Nagarkar hat 1997 einen historischen Roman veröffentlicht jenseits jeder Märchen-Süßlichkeit, vielfältig, farbenprächtig und saftig. Yvonne Poppek
Kiran Nagarkar: Krishnas Schatten, Fischer Verlag, 704 Seiten, TB 12,99 Euro
14) China – Der Wandel der Riesenstadt W.
Hinter der Megacity W. kann man in diesem Roman das inzwischen berühmte Wuhan vermuten – oder eine andere Riesenstadt Chinas. In „Die dritte Hälfte“ von 2013 erzählt die chinesische Autorin Ling Xi nicht nur von den Veränderungen jener Stadt, in der eine Sackgasse in „Straße des Fortschritts“ umbenannt wird. Ein kollektives „Wir“ namenloser Fabrikarbeiter berichtet auch vom Aufstieg und Fall des Schweißers Guo Leda – und vom Wandel der ganzen Gesellschaft, die Anfang des Jahrtausends rasant umgebaut wird, ohne dafür reif zu sein. Die Vergangenheit, so zeigt dieser pointiert satirische Roman, lässt sich nicht einfach abschütteln. Antje Weber
Ling Xi: Die dritte Hälfte, Liebeskind, 18,90 Euro
15) Japan – 1960er Jahre: Ruhelos in Tokio
Jeden Sonntag unternimmt der Ich-Erzähler Toru mit der stillen Naoko einen Spaziergang in den Straßen Tokios. Während in den späten 1960er Jahren an den Universitäten in Japan und weltweit die Studentenunruhen toben, versuchen die beiden Protagonisten in Haruki Murakamis „Naokos Lächeln“ einen ganz anderen Aufruhr zu bewältigen: Beide sind traumatisiert durch den scheinbar grundlosen Selbstmord ihres gemeinsamen Freundes Kizuki. Toru muss sich zwischen dem Wunsch nach Erinnerungen und der Notwendigkeit, diese zu vergessen, entscheiden. Barbara Hordych
Haruki Murakami: Naokos Lächeln, DuMont Verlag 26 Euro, btb-TB 11 Euro
16) Australien – Im Sumpf mit Tim Winton
Eine atemberaubende Roadnovel aus Australien – auch wenn Tim Winton beteuert, einige Orte in „Der singende Baum“ aus dem Jahr 2001 gebe es nicht, lässt er die Landschaften im Westen und Norden des Kontinents doch deutlich erkennen. Anhand der Fischersfrau Georgie und des Hummerwilderers Luther entwickelt der australische Schriftsteller die Geschichte einer unmöglichen Liebe – und begleitet schließlich die Flucht Luthers in eine Sumpflandschaft an der Küste vor Kimberley. Hier lernt er, allein mit sich und der Wildnis, einem Baum Musik zu entlocken. Und manchmal umarmt er ihn auch. Antje Weber
Tim Winton: Der singende Baum, btb Taschenbuch 10 Euro, E-Book 8,99 Euro